VILLARD DE HONNECOURT

(Bild 15) Villard de Honnecourt, Album de dessins et croquis, um 1230, MS Fr 19093, fol. 19v, Bibliothèque Nationale de France / Paris
(Bild 15) Villard de Honnecourt, Album de dessins et croquis, um 1230, MS Fr 19093, fol. 19v, Bibliothèque Nationale de France / Paris

Im Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt aus dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts begegnet uns ein Kopf, über den ein Karo-Raster mit eingeschriebenen gekippten Quadraten gezeichnet wurde. Die Nasenlänge gibt die Einheit vor, die Nasenwurzel zwischen den Brauen liegt im Zentrum.

 

Villards flächenhaft-schematisches System der Gotik vernachlässigt den natürlichen menschlichen Organismus zugunsten eines konstruierbaren Linienbildes. [1] Als ehemaliger Goldschmiedelehrling in der Werkstatt seines Vaters wird Dürer solche spätmittelalterlichen Reißprinzipien von Steinmetzen kennengelernt haben. [2]

 

Auch über dem Kopf eines Mannes liegt ein solches Raster, aus dem Linien in die Ecken des Gemäldes laufen. Allerdings ist diese Konstruktion unter den bisher untersuchten Köpfen Dürers ein Einzelfall. 

 

Solche Schematisierung ruft außerdem das "Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit" des Regensburger Dombaumeisters Matthäus Roritzer (um 1440 - zwischen 1492 und 1495) auf. In dieser ersten in deutscher Sprache gedruckten Architekturlehre von 1486 gab Roritzer eine Anleitung, wie ein gotisches Ziertürmchen (Fiale) aus den Maßen seines Grundrisses ("ain virvng") geometrisch ("aus der rechten geometerey") abzuleiten ist.

 

Man halbiere die Seiten eines Quadrats und errichte ein quergestelltes Innenquadrat. Dieselbe Operation werde noch einmal vollzogen und ein drittes inwendiges Quadrat konstruiert. Wenn immer eines quer im anderen steht, bildet sich eine Proportionsfigur heraus, wie sie auch Villards Kopf eingeschrieben ist. [3] 



[1] Unter Bezug auf Erwin Panofsky: Jean WIRTH, Villard de Honnecourt. Architecte du XIIIe siècle, Genf 2015, S. 102-108, hier: S. 103. Der Autor verweist auf das mittelalterliche Verständnis des Zusammenhanges von Anatomie und Geometrie: "(...) la conviction (...) que la géometrie est une loi de la nature, qu'on peut expliciter par la géometrie la structure de la Création."    

[2] Hans RUPPRICH, Dürer. Schriftlicher Nachlass, Bd. 2, Berlin 1966, S. 35; vgl. Albrecht DÜRER, Vier Bücher von menschlicher Proportion (1528). Mit einem Katalog der Holzschnitte, hrsg., kommentiert und in heutiges Deutsch übertragen von Berthold Hinz, Berlin 2011, S. 333.

 

[3] Matthäus RORITZER, Das Büchlein von der Fialen Gerechtigkeit und die Geometria Deutsch, Faksimile der Original-Ausg. Regensburg 1486 und 1487/88, Neudruck der Ausg. Wiesbaden 1965, hrsg. v.  F. Geldner,  Wiesbaden 1999; vgl. Walter UEBERWASSER, Nach rechtem Maß. Aussagen über den Begriff des Maßes in der Kunst des XIII-XVI. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 56 (1935), S. 250-272.