Dürers geometrisierte Köpfe

Für seine Kopfkonstruktionen entwickelte Albrecht Dürer ein hybrides Konzept. Er eignete sich sowohl die 'Rezepte' der Vergangenheit, als auch die Praxis der italienischen Renaissance an. Er wünschte, ideale Formen mit harmonischen Proportionen zu produzieren, bzw. im Fall von (Selbst-)Bildnissen das jeweilige Naturvorbild im Kunstwerk zu verbessern. Er hielt über lange Zeit u.a. an - spurlos gebliebenen - planimetrischen Lineargittern, geometrischen Grundfiguren und Analogiesystemen fest, um Kopfmaße und -formen sowie die Gesichtstopographie zu bestimmen. Diese maßästhetischen Eingriffe liegen unterhalb der Schwelle visueller Wahrnehmung.

 

Zwar stellte Dürer in den "Vier Büchern von menschlicher Proportion" (1528) fest: "Dann die menschlich gestalt kann nit mit richtscheyten oder zirckelen umbzogen werden ...". [1] Diese 'Einsicht' war aber der Notwendigkeit geschuldet, in der Lehre reproduzierbare Schemata (unabdingbar für Parallelprojektionen) anzubieten. Dennoch stellt man fest, dass Dürer die organischen Gliederungen vieler Köpfe mit eben jenen Zeichengerätschaften entwarf: Zirkel und Lineal. Aufgrund der Dichte der Konstruktionsschritte erweist sich der Kopf eines Mannes bei diesem Vorgehen als ein Labor der Maßästhetik. 

 

[1] "Denn die menschliche Gestalt kann nicht mit Richtscheiten und Zirkel umzogen werden ...". Siehe den so genannten Ästhetischen Exkurs im 4. Buch der Proportionslehre, in: Albrecht DÜRER / Berthold HINZ, Vier Bücher von menschlicher Proportion (1528). Mit einem Katalog der Holzschnitte, hrsg., kommentiert und in heutiges Deutsch übertragen von Berthold Hinz, Berlin 2011, S. 233 (T4v). 



konstruierte gestaltfindung

(Bild 4) Liniengerüst mit sechs Feldern und Diagonalen
(Bild 4) Liniengerüst mit sechs Feldern und Diagonalen
(Bild 5) Unterteilungen der Abschnitte, Äquidistanzen und Goldene Schnitte
(Bild 5) Unterteilungen der Abschnitte, Äquidistanzen und Goldene Schnitte
(Bild 6) Kreise und Kreisradien
(Bild 6) Kreise und Kreisradien

Grundlage für die Schematisierung des Kopfes ist ein Liniengitter, das von der Vitruvischen Gesichtsdreiteilung abhängt (siehe Regeln des Vitruv). Es erstreckt sich als Hochkant-Rechteck mit sechs quadratischen Feldern über das Gesicht. 

 

Am Scheitel des Kopfes ist eine Art gemalter Kerbe zu erkennen und die Nasenmitte kennzeichnete Dürer mit einem Strich. Durch diese Punkte verläuft die mittlere Vertikale, mit der der Nachvollzug der Konstruktion beginnt. 

 

Als Einheit zur Aufteilung des Gesichtes in drei gleiche Segmente wählte Dürer den Abstand von einer Linie am Kinn (die als Vorzeichnung durch die Malschicht zu sehen ist) bis zur Nasenspitze.

 

Dieses Maß (Einheit = Quadratseite) trug er nach oben und jeweils zu den Seiten ab. Beim Kopf eines Mannes wich er davon ab, den Pupillenabstand bei vorderansichtigen Köpfen als Einheit einzusetzen, wie es bei seinem Selbstbildnis im Pelzrock der Fall ist. 

 

Zieht man Diagonalen durch das Gerüst, laufen sie in die Ecken des Bildträgers. Somit ist auch das Format des Gemäldes konstitutiv für die Konstruktion. Eine solche Anlage ruft den von Rastern überzogenen Kopf im Bauhüttenbuch des Villard de Honnecourt in Erinnerung (siehe Villard de Honnecourt). (Diese Ähnlichkeit begründet u.a. die angenommene frühe Zeitstellung des Gemäldes.) 

  

Beim Kopf eines Mannes wie auch in Villards Skizze umlaufen Diagonalen die Augen an der Unterseite. Dürer passte jedoch nur das eine perfekt ein. Das rechte ließ er - wohl um einen starren Gesichtsausdruck zu vermeiden - aus dem Schema ausscheren. In dieser Weise ging er auch bei dem Kopf eines Knaben von 1508 vor.

 

(Bild 7) Albrecht Dürer, Kopf eines Knaben, 1508, Pinselzeichnung, 27 x 20,8 cm, Donnington Priory, Newbury, Berkshire (Scan aus: Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers, Bd. II: 1503 - 1510/11, Berlin 1937, Nr. 437), mit Handkonstruktion
(Bild 7) Albrecht Dürer, Kopf eines Knaben, 1508, Pinselzeichnung, 27 x 20,8 cm, Donnington Priory, Newbury, Berkshire (Scan aus: Friedrich Winkler, Die Zeichnungen Albrecht Dürers, Bd. II: 1503 - 1510/11, Berlin 1937, Nr. 437), mit Handkonstruktion

Mit einem System von Analogien trug Dürer beim Kopf eines Mannes verschiedene Gleichheitsbeziehungen aus: Die linke Augenzone lässt sich in gleichbreite Streifen unterteilen, deren Linien entlang der Augenwinkel laufen und die Pupille durchziehen. Ursprünglich wollte Dürer auch die Nasenflügel einbinden (was die Unterzeichnung zeigt), doch wurden sie letztlich verbreitert. Ein gleicher Streifen, quergelegt, markiert auch den Abstand vom Nasenende zur Mundlinie. 

 

Die Scheitelhöhe bestimmte er nach dem Abstand der inneren Augenwinkel voneinander. Diese Strecke stellt man auch von der Mittellinie zur linken Pupille fest. Offenkundig wurde die Höhe der Kopfkalotte so gewählt, dass sich Diagonalen exakt in den Augen schneiden. Dies trifft man häufig bei Dürers Kopfkonstruktionen an.

 

Nicht eingezeichnet ist, dass die Abstände vom Kinn zum Mundspalt und von der Nasenspitze zur Höhe der Pupillen übereinstimmen. Auch die Gesichtsbreite entwickelte er aus einer (kuriosen) Analogie. 

 

Das geometrische Gefüge schließt außerdem ein ideales, weil gleichseitiges Dreieck ein. Es verbindet die Pupillen mit dem Nasenende.

 

Nicht weniger als vier Male brachte Dürer den Goldenen Schnitt ein, um seine Komposition nach der Schönheitsformel der Renaissance zu proportionieren. Nur zwei sind hier markiert: Zum einen teilte er die Tafelhöhe, wobei die Linie unter der Nase die kleinere von der größeren Strecke trennt. Ein zweites Mal zerlegte er die Gesichtslänge zwischen der Kinnlinie unten und der Haargrenze oben auf Höhe der Pupillen. 

 
Neben den Geraden machte Dürer auch von Kreisen und Kreisradien zur Beschreibung des Physischen Gebrauch. Sie sind an das planimetrische Netz gebunden. 

 

Ein größerer Kreis, der exakt durch die Ecken läuft, zieht den (unterzeichneten, dann verändert gemalten) Halsausschnitt nach. Mit dem Radius des kleineren, der den sechs Feldern in der Länge eingepasst ist und die Ausdehnung des Haarschopfes zu beiden Seiten begrenzt, lassen sich die Augeninnen- und Mundwinkel verorten.



(Bild 8) Albrecht Dürer, Skizze eines weiblichen Körpers, MS 5228 fol. 142r (verso mit Durchzeichnung), British Library / London
(Bild 8) Albrecht Dürer, Skizze eines weiblichen Körpers, MS 5228 fol. 142r (verso mit Durchzeichnung), British Library / London

Wie bei Dürer Zirkelschläge bestimmte 'Körperbauteile' vorbilden, illustriert das Londoner Blatt mit dem Körper einer Frau. Mehrfach kam hier der Zirkel zum Einsatz, etwa um die Höhe der Taille unterhalb des Brustrechtecks festzulegen. Ein Kreis, geschlagen von der Halsgrube, verbindet sogar den unteren Kontur der Brüste mit der Position der Augen.